Der Anfall
Umweltministerin Judith Reimers war zu Gast bei 'Menschen aus dem Nord-Süd-Land'.
Judith hatte darauf bestanden, daß Helga sie begleitete, sie sollte
ihr Glück bringen. Helga war ihre beste Freundin und zugleich Staatssekretärin
in ihrem Ministerium. Zwei Abende hatten die beiden Frauen Fakten und Zahlen
gepaukt und noch auf der Fahrt zum NSR, fragte Helga sie ab. Der Grund
für diesen Fleiß war ein gewisser Herr Söhnholz. Ein befreundeter
Journalist hatte ihnen geflüstert, daß dieser Herr Judiths Gegenpart
in der Sendung sein würde. Söhnholz war ein Vorstand der WEW,
einem Stromversorgungsunternehmen und vertrat sozusagen die Kraftwerkslobby.
Pikanterweise war dieser Herr bis vor einem halben Jahr Abteilungsleiter
in Judiths Ministerium, zuständig für die Atomkraftwerke, gewesen.
Er hatte die Fahnen gewechselt und kannte natürlich die Position des
Ministeriums aufs Vortrefflichste.
Als Judith Reimers das Studio betrat, ging ein Raunen durch den Saal.
Helga nahm unauffällig im Publikum Platz. Ohne Zweifel war Judith
der Star der Sendung. Einmal wegen ihrer von jedermann geachteten Kompetenz,
zum anderen wegen ihrer Schlagfertigkeit, vor allem jedoch wegen ihrer
Schönheit. Sie war mit ihren 33 Jahren die jüngste Ministerin
Deutschlands. Sie sah so jugendlich aus, als pflücke sie ihre Äpfel
selbst und klettere in die höchsten Bäume. Bisher war sie nie
gefallen, jeden morschen Ast hatte sie rechtzeitig erkannt. Schnitte ihre
Partei bei den Bundestagswahlen gut ab, würde sie Bundesministerin
werden.
Die erste Talkrunde beschäftigte sich mit Mode, ein Thema das
natürlich jede Frau interessiert. Wie gewohnt beherrschte Judith Reimers
die Szene. Impulsiv schlüpfte sie in das Kleid eines Models und zeigte
sich sogar kurz in Unterwäsche. Das machte der Frau Ministerin nichts
aus, ihr Lächeln und Charme war umwerfend. Es gefiel dem Publikum,
und der Applaus war unglaublich. Als nächstes war die Umweltpolitik
vorgesehen. Die Pause überbrückend spielte eine Band. Diese Gelegenheit
ausnützend, schaute Judith ein letztes Mal auf ihren Spickzettel,
rief sich noch einmal die Zahlen ins Gedächtnis. Jeder im Studio hing
fasziniert an den Lippen einer schwarzen Sängerin. Die Männer
starrten wie gebannt auf deren feingliedrigen Finger, die nicht etwa Klavier
spielten. Nein, sie faßten, griffen, streichelten das Mikrophon,
und die sinnlichen Lippen der braunen Schönheit wollten es fast verschlingen.
Judith jedoch sah nicht auf die improvisierte Bühne, sie betrachtete
ihren Kontrahenten. Der spürte ihren Blick, riß sich von der
Sängerin los und wandte sich ihr zu. Er wich ihrem Blick nicht aus,
im Gegenteil, vor Selbstvertrauen strotzend, schaute er ihr fest in die
Augen. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Könnte dieser Speichellecker
ihr gefährlich werden? Über ihre Lippen huschte ein geringschätziges
Lächeln. Sie erinnerte sich an eine Szene vor nicht langer Zeit. »Aber
selbstverständlich«, hatte Söhnholz gedienert, »Sie
brauchen nur zu bestimmen, wie lange das Atomkraftwerk stillgelegt bleiben
soll. Ich werde schon dafür sorgen, in der Technik findet sich immer
ein Haar in der Suppe und wenn es Haarrisse sind, ha ha..« Nicht
zu glauben war das, und dieses Schwein war jetzt im Vorstand der WEW. Judith
kannte ihren Pappenheimer. Bestimmt wird er die ökonomische Karte
spielen, dachte sie, Zahlen über Zahlen präsentieren, wird vorrechnen,
daß man sich den Ausstieg aus der Kernkraft einfach nicht leisten
könne. Aber es kam ganz anders. Nach einem allgemeinen Geplänkel
kam die Sprache zwangsläufig auf das Risiko der AKWs.
»Natürlich ist das Risiko eines Atomkraftwerkes nicht Null«,
gab Söhnholz zu, »aber es gibt ein ganz anderes, viel größeres
Risiko, und das wird Sie gnädige Frau Ministerin vielleicht erstaunen.
Wer wie Sie aus der Atomkraft aussteigen will, erhöht durch einen
solchen Schritt die Gefahr eines atomaren Infernos!«
Allen verschlug es die Sprache, und der flotte Moderator stammelte:
»Wieso das denn? Das müssen Sie schon etwas näher erklären!«
»Aber natürlich, gern, spielen wir folgendes durch: Die
USA, Japan, Rußland und Westeuropa verzichten auf Kernkraftwerke,
was passiert dann wohl?«
Söhnholz sah in die Runde, keiner antwortete.
»Ja, ihr Traum wär' doch in Erfüllung gegangen, der
grüne.«
Judith roch den Braten:
»Der Ausstieg soll natürlich Schritt für Schritt erfolgen,
wir schalten die AKWs erst ab, wenn Alternativen vorhanden sind.«
»Sie meinen am Sankt Nimmerleinstag, oder wollen Sie die Sonne
verrücken, damit sie mächtiger über Rußland und Westeuropa
scheint? Wo wäre das Abschalten am dringlichsten?«
»Tschernobyl«, riefen wie aus einem Mund mehrere Leute
aus dem Publikum.
»Richtig, dort sind ja noch einige Blöcke in Betrieb. Und
was soll dafür dort hin? Ein modernes sicheres Kernkraftwerk, gebaut
nach deutschem Sicherheitsstandard, zum Beispiel eins von der KWU?«
fragte Söhnholz provozierend.
Judith spürte den Köder, zögerte mit der Antwort, aber
es half nichts, sie mußte antworten.
»Nein, natürlich nicht, ein konventionelles Kraftwerk, wir
können doch nicht zulassen, daß man den gleichen Fehler noch
einmal macht!«
Beifall kam aus dem Publikum. Sie lächelte dankbar.
»Richtig, das ginge«, stimmte Söhnholz zu, »also
müßten alle AKWs mit der Zeit durch herkömmliche Kraftwerke
ersetzt werden. Sehe ich das richtig?«
»Es muß verstärkt in neue Technologien investiert
werden, und der Energieverbrauch muß deutlich reduziert werden. Intelligente
Technik verbraucht weniger Energie«, wich Judith der Frage aus.
»Gut, einverstanden, wie groß könnte das Sparpotential
sein?« Söhnholz schaute fragend in die Runde.
»Für Deutschland ohne weiteres 30 Prozent, natürlich
über einen längeren Zeitraum, sagen wir 15 Jahre«, antworte
Judith. Sie hatte die Zahlen im Kopf.
»Gut einverstanden, also die restlichen 70 Prozent sollen herkömmlich
erzeugt werden, also mit Kohle, Erdöl und Gas«
Er sah Judith fragend an. Die nickte, und sofort fühlte sie, wie
der Boden unter ihr wegrutschte, gleich würde sie in der Falle sitzen.
»Und weltweit, was machen wir da? Vergessen Sie bitte nicht,
daß sich die Weltbevölkerung in diesem Zeitraum um weitere zwei
Milliarden Menschen vergrößert haben wird. Global betrachtet
wird also ständig immer mehr Energie benötigt. Wenn es keine
Kernenergie gibt, wird man sich um die fossilen Brennstoffe schlagen, denken
Sie nur an den Golfkrieg oder an den Krieg im Irak. Dort ging es doch auch
ums Öl. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Krieg zu einem
Atomkrieg ausartet, ist relativ hoch. Also erhöht der ehrenhafte Versuch
aus der Kernenergie auszusteigen, die Gefahr einer weltweiten atomaren
Verseuchung.
Von der Klimakatastrophe und die ist wirklich real, habe ich noch gar nicht
gesprochen.«
Für einen Moment herrschte absolutes Schweigen. Plötzlich
geschah es. Judith verzog das Gesicht, ihre Nase bebte, zitterte, rhythmisch
wurden ihre Nasenlöcher mal größer und wieder kleiner,
bewegten sich wie die Nüstern eines Pferdes, wie ein Stück Wild,
das Witterung aufnimmt. Nach ein, zwei Sekunden kam ein Ausdruck von unglaublicher
Gier über ihr Gesicht. Sie sprang auf und lief wie ein Hund schnüffelnd,
aber aufrecht gehend, in das Publikum. Dann nahm sie ein Glas, das auf
einem Tisch stand und stützte den Inhalt hinunter. Sie umklammerte
das Glas so fest, daß es zersprang. Blut entquoll ihrer Hand. Geistesabwesend
schaute sie auf die Verletzung, aber dann, als ihr das viele Blut ins Bewußtsein
drang, brach sie ohnmächtig zusammen. Leute sprangen auf und trugen
sie aus dem Raum. Zum Glück hatte das Fernsehpublikum ihren Ausflug
nur kurz mitbekommen. Schnell hatte die Regie umgeschaltet. Der Moderator
entschuldigte die Ministerin und läutete die nächste Runde der
Talkshow ein. Später, noch während der Sendung, gab es die erfreuliche
Erklärung, Frau Ministerin Reimers ginge es nach dem erlittenem Schwächeanfall,
wieder besser.
copyright: ach-satire.de Auszug aus dem Roman "Der Milliardenvirus"
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