In der Roten Gurke

Die Rote Gurke liegt in einer Gegend in der vorwiegend Arbeiter und kleine Angestellte wohnen. Als die beiden Verfassungsschützer die Gaststätte betraten, traute Hubert seinen Augen kaum, das Lokal, Kneipe wäre ein treffenderes Wort, war brechend voll. Einen Platz suchend gingen sie an der Theke entlang und hatten Glück, zwei Barhocker wurden frei. Wahl stellte Hubert dem Wirt als seinen Freund aus Südstadt vor, erklärte jedoch sogleich, daß sein Freund ein geborener Lichtstädter sei. Hier trank man gutes Lichtstädter Bier. Mit einer Runde für die Nachbarn links und rechts bezeugte Hubert seine Sympathie. Nun gehörte auch er zum Dunstkreis der Sympathisanten. Wenn das sein Chef wüßte! Ach nein, es war nur ein Bierkreis, und gegen diese Partei könnte er nichts haben. Ist der da nicht selbst Mitglied? Hubert müßte das eigentlich wissen, hatte ihm nicht sein Chef nahegelegt, dort einzutreten?
»Wo hängen nun deine Bilder?« fragte Hubert nachdem er und Wahl einen tüchtigen Schluck Bier genommen hatten.
»In einem Nebenraum, komm mit, ich zeige sie dir.«
Wahl winkte dem Wirt, und sie gingen mit ihm in ein Hinterzimmer, das vorwiegend als Sitzungszimmer benutzt wurde. Der Wirt, stolz diesen Brennpunkt politischen Geschehens sein Eigen nennen zu dürfen, sagte:
»In meinem Hinterzimmer wird die eigentliche Politik Lichtstadts gemacht.«
Hier in diesem geschichtsträchtigen Raum hingen Peter Wahls Bilder. Sie gefielen Hubert auf Anhieb. Fast alle Bilder hatten Wasser als Motiv, oft das Lichtstädter Meer. Viele zeigten Boote auf dem unendlich großen See, aber auch den Lichtstädter Hafen. Hubert kaufte zwei Aquarelle. Er nahm sich vor, die Bilder in seinem Büro in Südstadt aufzuhängen. So hätte er eine Erinnerung an seine Heimat. Wahl wollte sie ihm erst schenken, aber nein, Hubert bestand darauf, ihm den Preis zu bezahlen. Er stelle einen Scheck über 500 Euro aus und gab ihn dem Wirt, der von dem Geld auch seine Prozente bekam. So hatte alles seine Ordnung. Die Bilder ließ er hängen, er würde sie bei seinem nächsten Besuch in Lichtstadt abholen. Als sie zurück an die Theke kamen, hatten sie ihre Plätze an zwei Damen verloren. Mit der einen Dame, einer äußerst attraktiven Blonden, etwa 30 Jahre alt, sehr gepflegt, kam Hubert bald ins Gespräch.
»Sagen Sie« fragte er sie, »was halten Sie eigentlich von diesem Lichtstädter Ausschuß, den mit der Schachtel, in der immer 100-Euroscheine liegen? Von diesem nimmermüden Tischlein deck' dich!, auf dem die Geldbündel wie von selbst erscheinen. Oder sind Sie nicht politisch interessiert?«
Das war natürlich in dieser Umgebung eine ketzerische Frage, aber die Dame schien das nicht krumm zu nehmen.
»Aber natürlich bin ich das. Deshalb weiß ich auch, daß es sich bei dem Geldsegen nicht um das "Tischlein deck' dich!", sondern um den "Esel streck' dich!" handelt. Bestimmt habe auch ich manchmal etwas in die Schachtel gesteckt. Hier in Lichtstadt wird immer für alle möglichen und unmöglichen Zwecke gesammelt. Die Hauptsache ist, ich krieg' es nicht mit diesem fürchterlichen Knüppel aus dem Sack zu tun.«
So groß schien ihre Angst nicht zu sein:
»Aber das riskiere ich, denn ich sammele auch und zwar für gefallene Mädchen!«
Sie hielt ihm ihre offene Hand hin.
»Gern geb' ich eine Kleinigkeit«, erläuterte Hubert trocken, »aber ich bezahle in einem solchen Fall immer direkt.«
Da fing das schöne Kind so zu lachen an, daß sie sich gar nicht beruhigen konnte.
»Ja, lachen Sie man ruhig noch, nutzen Sie das kräftig aus, bald wird das Lachen versteuert.«
Hubert sagte das völlig ernst. Sie hörte, entgegen seinem Rat, sofort auf. Diese üble Aussicht muß sie richtig erschreckt haben.
»Ja«, sagte sie, »hier in Lichtstadt ist alles möglich.«
Sie sah Hubert nun direkt ins Gesicht und fragte:
»Kann es sein, daß ich Sie neulich im Wasserschloß gesehen habe?«
»Oh ja, das kann schon sein. Dort bin ich des öfteren, denn ich bin der technische Erprobungsleiter des Lichtstädter Finanzministeriums. Ich hatte dort dem Herrn Ministerpräsident das Lachometer vorgeführt. Ich glaube, bei Ihnen könnte man es hervorragend ausprobieren, sie lachen so herzhaft.«
»Was wollen Sie bei mir ausprobieren?«
»Ich möchte Ihnen ein Lachometer anpassen. Damit wird erfaßt, wieviel Sie so lachen, zwecks Erhebung der Steuer. Wegen der Steuergerechtigkeit muß das genau registriert werden. Sie werden sehen, unsere Lichtstädter Schachtel ist schnell wieder voll.«
Die Dame legte jetzt aber erst richtig los.
»Ja, lachen Sie man noch, aber wenn ich Ihnen das Lachometer umgeschnallt habe, überlegen Sie sich jeden Lacher.«
»Und wenn ich nicht zahle?«
»Sie müssen, sonst verwandelt sich das Lachometer in einen Schmerzzollator, der kneift sie dann so kräftig, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht, Sie also zur Strafe blind und taub werden«, warnte er sie.
»Nein, dann zahle ich lieber. Sie müssen aber das Gerät bei mir ablesen!«
»Ja, das geht in Ordnung, ich werde auch die Lichtstädter Schachtel mitbringen, damit Sie sehen, daß alles seine Richtigkeit hat«, versprach er.
»Oh, darauf freue ich mich, also wenn Sie zum Ablesen kommen, dann zahle ich gern.«
»Diese Vorfreude wird aber auch erfaßt! Und wenn Sie meinen, Sie könnten irgendwie mogeln, sozusagen sich das Lachen verkneifen, dann lasse ich Sie vor den Schachtelausschuß laden. Da dürfen Sie nicht lügen. Außerdem werden Sie dort fertiggemacht noch bevor Sie aussagen. Dann haben Sie nichts mehr zu lachen, selbst kichern ist verboten. Sie wissen bestimmt nicht, was das hier in Lichtstadt bedeutet.«
Jetzt mischte sich tatsächlich frech sein Freund Peter in das Gespräch ein:
»Nein, bei der Dame werde ich ablesen, ich bin sicher, sie versucht dich zu bestechen. Garantiert hinterzieht sie Steuern.«
Diese Rede war wirklich etwas unverschämt. Eine solch nette Dame so zu verdächtigen, das gehört sich einfach nicht, jedenfalls nicht hier in Lichtstadt. Und überhaupt, hier an der Lichte hatte man böse Erfahrungen mit anonymen Steueranzeigen gemacht. Das fand die Dame auch und meinte, sie müsse sich ihn ein wenig vornehmen:
»Sie bekommen gleich die Sporen! Sie, Sie mit Ihren krummen Ohren!«
Das fand Hubert ein wenig übertrieben. Peter Wahl hatte solch gerade Ohren, und als ordentlicher Verfassungsschützer war auch kein Ringlein zu sehen, weder in Nase noch Ohr. Oder wäre es das, was die Dame so liebte und nun vermißte?
»Wissen Sie nicht, daß Sporen so 'ne Art Samen sind, bei den Farnen und den Pilzen«, fragte Peter die Schöne.
Wußte sie, hatte auch gleich wieder die richtige Antwort:
»Ihr seid keine Männer, ihr seid alte Kartoffelboviste, wenn man euch berührt, platzt ihr und was kommt heraus? Sporen, nichts als dunkler Staub.«
Das war schon ein Früchtchen, diese Dame, eine Walderdbeere, wild und würzig aber wegen der vielen Schwermetalle mit Vorsicht zu genießen. Wie konnte sie so mit den beiden Stäublingen umspringen, ohne zu wissen, ob nicht einer von ihnen ungenießbar oder gar giftig sei. Das Risiko ging sie ein, sie bat sogar abstaubend, sie könnten ihr ein Bier spendieren. Beider Herren Staub hätte ihr mächtig die Stimmbänder bestäubt. Ihr Lachen aber war wie eh und je und hätte eigentlich keinen Gerstensaft nötig gehabt. Peter Wahl aber, großzügig wie immer, ließ sich nicht zweimal bitten. Er fragte sie dann noch, ob an ihren Stimmbändern auch Staubgefäße säßen, das wäre äußerst praktisch, schnell könnten die dann immer wieder bestäubt werden. Auf diese Frage wolle sie nicht antworten, sagte sie und erklärte züchtig, über solche Intimitäten spräche sie nicht in der Öffentlichkeit. Da hakte Hubert sofort ein und schlug vor, sie solle die Augen schließen, sie könne die beiden dann nicht sehen. Nein, sprach die Dame, das würde bedeuten, man mache sozusagen das Licht aus, und dafür wäre es noch zu früh.
Doch dann meinte die Dame, sie müsse den beiden Herren für einen Augenblick Lebewohl sagen und begab sich zu einem entfernteren Tisch, von dem man ihr zuwinkte. Als Wahl den Wirt fragte, wer die Dame sei, schüttelte der Wirt ungläubig den Kopf. Wie konnte es angehen, daß jemand hier in diesem Raum nicht die Sekretärin Glanders kannte. Aber sie sei selten hier in der Gurke, meistens sei die Dame in der Pumpe. Seine andere Sekretärin jedoch, die wäre fast jeden Sonntag hier.
Vorrangiges Gesprächsthema in der Roten Gurke war der Schütze-Skandal und natürlich der Untersuchungsausschuß. Hubert bemerkte eine auffallende Zweiteilung, einmal die Arrivierten, also die 68ziger und andererseits die junge Generation. Wahl und Hubert waren so in der Mitte und durften keine Meinung haben. Daran hielten sie sich auch peinlich genau. Die Jungen wollten alles rücksichtslos aufgedeckt wissen, während die älteren Parteimitglieder eher einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse legen würden. Aber eines war sicher, da war nicht alles ganz koscher. Das stand für jedermann, für Jung und Alt fest, aber keiner wußte nichts Genaues nicht.
Plötzlich herrschte Stille, alle schauten zur Tür. Herein kam ein Mann um die siebzig. Er ging an jeden Tisch und klopfte kurz darauf und setzte sich ganz bescheiden dort hin, wo gerade ein Platz frei war. Er machte einen sehr freundlichen Eindruck. Er war eine wirkliche Persönlichkeit, von ihm strahlte eine Wärme und Herzlichkeit aus, wie Jochen Hubert sie vorher kaum bei einem Menschen erlebt hatte. Hubert wagte nicht zu fragen, wer das sei, er wollte sich nicht bis auf die Knochen blamieren. Wer weiß, dachte er, vielleicht weist man mir die Tür. Obwohl er als Lichtstädter Jung' wußte, daß die Bräuche hierzulande eigentlich nicht so streng sind. Und wenn doch, dann sicherlich nur für 10 Minuten, nur zur Erziehung. Weinert hatte recht, hier in diesem Arbeiterviertel, in dieser Kneipe war jeder zweite ein Lehrer, garantiert war kein Koch dazwischen. Selbst der Wirt hatte bestimmt studiert oder es zumindest versucht. Hubert hatte natürlich später doch herausbekommen, wer der Ankömmling gewesen war. Es war der Landesvorsitzende der VDV, Zieper. Der hatte mit der Lichtstädter Affäre nichts zu tun, wirklich nicht.
Ziepers Gesicht hatte durch seine rechtschaffene Gesinnung einen Ausdruck bekommen, wie er reiner und mildtätiger nicht hätte sein können. Und doch war da um Ziepers Mund eine kleine Falte, ein gewisser Ausdruck, der nicht zu seinen sonst so regelmäßigen Zügen paßte. Kenner nannten diese Falte sein Parteigewissen. Auch bei älteren katholischen Theologen findet man öfters solch einen Gesichtsausdruck, hervorgerufen durch die schlimmen Sachen, die ihnen während vieler Jahre von ihren Schäflein gebeichtet worden waren. So einem Priester ist nichts Menschliches fremd, und Zieper, dem ging es als langjährigen Politiker ebenso. Als er sich eines Tages, er war da schon über 60 Jahre alt, im Spiegel betrachtet hatte und diese böse Falte entdeckte, da war ihm klar geworden, daß er sein Verhalten ändern müsse. Er dürfe sich nicht länger dem politischen Dreck aussetzen. Ab jetzt, so hatte er sich damals vorgenommen, wollte er von den Schweinereien der Politik nichts mehr wissen. Anders als zum Beispiel sein Parteifreund Schütze, der mit seiner strengen Wahrheitsliebe immer alles aufklären wollte, nahm Zieper unangenehme Sachen innerhalb der Partei einfach nicht länger zur Kenntnis. Der Spruch, was du nicht weißt, macht dich nicht heiß, wurde zu seiner Maxime. So war es auch mit der Lichtstädter Schachtel, Zieper wußte von nichts. Er soll sich jedesmal, als die Sprache auf dieses für seine Partei und das Nord-Süd-Land so unselige Thema kam, die Ohren zugehalten und dabei laut gesungen haben:
»Ich will davon nichts wissen, ich will davon nichts wissen....«
Einmal, so sagt man, wäre er, als die Parteiführer alle in seinem Haus tagten, und er schon heiser geworden war und kaum noch einen Laut herausbrachte, also die Gefahr bestand, er müsse hören, was dort verabredet wurde, glatt aus seinen eigenen vier Wänden gelaufen und hätte irgendwo im Freien unter Arkaden übernachtet. Das war außerordentlich weise und solche Klugheit wird belohnt, der Mann wird lange Vorsitzender bleiben. Aber was war nur mit dem Schütze geschehen? Einige Parteifreunde empfanden sogar eine gewisse Schadenfreude. Dieses Gefühl gestatteten sie sich ihm gegenüber, diesem blöden Weltverbesserer und Besserwisser.
Als wieder einmal die Tür aufging, sah Hubert, wie Albrecht, Weinerts Assistent, mit einer jungen Dame hereinspazierte. Die Dame schaute kurz in die Runde und ging stracks zu dem Tisch hin, an dem die Sekretärin Glanders Platz genommen hatte. Albrecht folgte ihr, und da dort kein Platz frei war, die Dame hatte sich auf einen Schoß gesetzt, stand er dort wie ein Trottel. Aber nicht lange, ihm wurde befohlen, schleunigst für Bier zu sorgen, und so kam es, daß er die beiden Verfassungsschützer an der Theke sitzen sah.
»Wer ist denn das hübsche Kind mit dem Sie eben gekommen sind?« fragte Hubert.
»Eine gewisse Rita Himmelreich, sie arbeitet in der Landesregierung. Sie ist die Sekretärin Glanders. Könnte sein, sie hat einen der Entführer von Schütze gesehen.«
»Sind Sie auch in der Partei?« fragte ihn Wahl in einem Ton, der Hubert aufhorchen ließ.
»Nein, die Dame hat mich mitgenommen. Sie ist öfters hier.«
Wahl lächelte, sagte jedoch nichts. Hubert hatte das Gefühl, sein Freund würde das hübsche Kind, die zweite Sekretärin Glanders, näher kennen.
»Albrecht«, munterte Hubert ihn auf, »sehen Sie mal zu, daß wir mit der Dame in Kontakt kommen können und auch mit der anderen, zu der sie hingegangen ist.«
Albrecht versprach es und ging mit einigen Biergläsern zurück an den Tisch der beiden Damen. Wahl und Hubert hatten schon einige Biere gezischt, als an dem Tisch der Pilzin zwei Plätze frei wurden. Man mußte zu Muttern, Mittagessen. Albrecht setzte sich und winkte den beiden zu. Wahl wollte nicht, plötzlich hatte er keine Zeit mehr und verabschiedete sich. Für Hubert war es jetzt klar, sein Freund wollte der süßen Rita Himmelreich aus dem Weg gehen. Er selbst hatte noch eine knappe halbe Stunde Zeit, dann müßte auch er aufbrechen. Else warten zu lassen, wäre eine Frevel gewesen. Die am Tisch verbliebenen Herrschaften rückten ein bißchen zusammen, so fand der Neuankömmling auch noch Platz. Die Walderdbeere saß direkt neben Hubert. Ob sie ihm jetzt ihre Staubgefäße zeigen würde, fragte er sie. Da guckte aber die andere Dame, die, mit der Albrecht gekommen war und wunderte sich augenscheinlich, wie intim die beiden waren. Nein, antwortete die hübsche Vorzimmerpflanze, nicht hier in der Öffentlichkeit. Als er folgerichtig erwiderte, hier sei man bestimmt unter sich, wollte sie das trotzdem nicht gelten lassen. Zu viele Giftpilze ständen hier herum, stellte sie fest, als sie Theater spielend in die Runde schaute. Allerdings ihr Tonfall hatte einen Klang, der Zweifel ausschloß. Aber ihr Lachen war wie eh und je. Hubert überlegte, ob er ihr das Lachometer persönlich ablesen sollte. Er entschied sich, ihr erst einmal ein Gerät anzupassen, dann könnte er das immer noch entscheiden.
»Sind Sie sicher, daß wir hier Giftpilze haben? Kann man das am Aussehen erkennen?« fragte er.
»Ja natürlich, schauen Sie sich hier um. Überall sehen sie die Wirkung des Gifts. Viele haben solch melancholischen Ausdruck im Gesicht, die wissen um ihr Schicksal.«
»Welche Pilze können das gewesen sein, mit solch einer Wirkung?«
»Welche wohl? Klingelt's nicht bei Ihnen?«
Hubert schüttelte den Kopf.
»Das ist doch ganz klar, es sind die grünen Knollenblätterpilze, die verfluchten. Das verführerische daran ist, daß die einen guten Geschmack haben. Wenn du merkst, daß mit dir etwas nicht stimmt und das erfährt du sehr spät, das ist ja das tückische, dann hat das Gift dir deine Eingeweide schon zerfressen, keine Hilfe ist mehr möglich.«
»Sie sind ja eine richtige Kennerin. Wie ist das eigentlich mit diesen schönen roten Pilzen, die mit den weißen Pünktchen darauf?«
»Sie meinen sicher die Fliegenpilze, die sind eigentlich harmlos. Man bekommt davon nur einen starken Rausch, auch schlägt das Herz einem etwas stärker. Ein gesunder Mensch wird damit fertig, was übrig bleibt, ist nur ein Kater.«
»Kann es sein, die Melancholie hier kommt nur von dem Kater?«
«Nein, sicher nicht, das ist das grüne Gift."
»Aber grün ist die Hoffnung«, stellte Hubert fest.
»Essen Sie mal einen grünen Knollenblätterpilz, da gibt es keine Hoffnung!«
»Welches sind denn Ihre Lieblingspilze?«, fragte Hubert.
»Mein Lieblingspilz ist die Rotkappe, deren Fleisch ist fest und außergewöhnlich schmackhaft, ein durch und durch solider Pilz, leider wird er immer seltener.«
Nun konnte Hubert ebenfalls mitreden:
»Ja, ich kenne die Rotkappen auch, bei denen kann man sich richtig erschrecken. In der Pfanne, also bei richtiger Hitze, werden sie ganz schwarz und automatisch denkt jeder dann, daß die wohl giftig sind.«
Der ganze Tisch lachte ob dieser farbpolitischen Pilzgeschichte. Und wie Hubert die Stühle betrachtete, hatte er das Gefühl, die schauten ihn auch grinsend an. Hatte die Dame eventuell schon einmal hier an diesem Ort die Geheimnisse des roten Pilzes verraten? Wollte der Wirt ihn, den Neuankömmling, etwa mit dem Pilzgift berauschen und süchtig machen? Oder waren es die Augen der anderen Dame, die auf den Namen Rita hörte? Die schauten ihn an, rhythmisch wurden sie mal größer und dann wieder kleiner. So ein Zauberkunststück hatte Hubert noch nie gesehen, ob die Dame noch anderes konnte? Ja, da mußte noch etwas gewesen sein, denn ihm wurde plötzlich gewahr, daß er im gleichem Takt seinen Mund öffnete und schloß, öffnete und schloß. Und als er dann vor Schreck seinen Mund geöffnet hielt, blieb auch ihr Blick groß und ihm schien, sie wollte ihn mit ihren Augen verschlingen. Nun ja, es war Essenszeit. Dieser Gedanke rettete ihn, denn er dachte wieder an Else und plötzlich merkte er sogar, daß ihm der Magen knurrte. Aber vor dem Essen mußte er noch seine Neugier stillen:
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich so indiskret bin, gnädige Frau, verraten Sie mir Ihre Profession?« fragte er die schöne Rita Himmelreich.
»Ich bin Beamtin.«
»In der Naturschutzbehörde?«
»Nein, leider nicht, ich diente bis vor einer Woche unter Pellegrini, dem Gestrengen. Unter seiner Eminenz, der grauen, es war einfach grauenhaft. Nun unter Glander, dem Blender. Ich habe schon ein schweres Los.«
Alle am Tisch lachten. Hubert aber wunderte sich, daß die Dame sich das so traute. Er kannte die Beamtenseele, da müßte schon ein starker Protektor hinter ihr stehen. Sie würde sonst nicht wagen, solch lockere Reden zu schwingen.
»Da müßten Sie sich versetzen lassen,« sagte er.
»Nein, nein, der Glander glänzt so schön. Mal sehen, wie lange der Glanz hält. Im Übrigen habe ich bald alle Ressorts durch, genau wie Pellegrini. Den habe ich in Lichtstadt überall hin begleitet.«
»Wo war der denn überall?«, wollte Hubert wissen.
»In Oststadt fing er beim Geheimdienst an. Da haben sie ihm bestimmt sein Rückgrat heraus operiert. Ach, was rede ich da, der hat nie eins gehabt!«
Jetzt lachte keiner mehr laut, nur noch heimlich grinsten sie, die Parteifreunde. Einer drehte sich sogar um und kicherte, wie in der Schule, war bestimmt ein Lehrer. Bei einigen klang das Lachen schon etwas schadenfroh. Solch gefährliche Rede konnte durchaus ins Auge gehen. Das mit dem Geheimdienst fand Jochen Hubert eine Frechheit. Ja, sie hätte wirklich eine Rüge verdient. Er müßte sie mit nach Südstadt nehmen, und dort könnte sein Chef ihr so richtig eine geigen. Ob sie das wohl vertrüge, oder wäre ihre zarte Seele dann geschwärzt? Wie er seinen Chef kannte, könnte es allerdings sein, er drücke sich und würde ihm diese widerwärtige Angelegenheit aufhalsen. Natürlich mit der Begründung, er als zukünftiger Leiter einer Dienststelle, müsse das schon fleißig üben. Aber der Chef würde Hubert bestimmt gern seinen meisterlichen Geigenbogen leihen. Natürlich hätte dieser Spanner die beste Wanze der Abteilung in den Bogen eingebaut. Wer weiß, vielleicht kämen da noch Dinge hinein, die selbst Hubert noch nicht kannte, die ihm erst offenbart würden, wenn er eine solche Prüfung hinter sich gebracht hätte.
»Gnädige Frau«, ermahnte Hubert die Dame, »Sie reden sich ja um Kopf und Kragen!«
»Ach was, hier sind alles nur Freunde.«
»Das ist nett, daß Sie mich auch zu Ihren Freunden zählen. Im übrigen bin ich eine geschachtelte Auster.«
Da hörte Hubert von allen Seiten ein beifälliges Murmeln. Wenn jemand eine solche Verschlossenheit auf sich nimmt, würdigt man das in Lichtstadt, besonders in dieser Partei. Die Dame freute sich auch. Aber dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernst, sie wollte bestimmt wissen, wie sein geheimer Kern aussieht. Doch dann lächelte sie ihn an und fragte höflich, ob er auch ihre Staubgefäße füllen würde. Das tat er selbstverständlich gern und bestellte zu dem Bier auch noch für jeden einen Schnaps, der sollte für den Fruchtknoten sein. Der Alkohol brannte in Huberts Magen und prompt revanchierte sich der, indem er seinem Besitzer ein fürchterliches Hungergefühl meldete. Jetzt wurde es wirklich für Hubert Zeit, sich aus dem Staub zu machen, trotz der Staubgefäße und dem süßen Nektar. Käme er zu spät zum Essen, Else würde es ihm nie und nimmer verzeihen und es müßte schon lange Gras über die Geschichte wachsen, ehe sie ihm wieder einen Aal servieren würde. Also verabschiedete sich Hubert. Galant küßte er den Damen die Hand. Ob solch ritterliche Geste jetzt öfters in der Roten Gurke vorkommt? Den Herren verweigerte er solch einen Gunstbeweis und nickte ihnen, bis auf Albrecht, dem er auf die Schulter klopfte, nur freundlich zu. Der jedoch ließ sich das nicht gefallen. Noch bevor Hubert die Tür erreichte, war Albrecht ihm auf den Fersen und raunte ihm zu:
»Was halten sie davon, wenn wir heut' Abend einen flott machen?«
»Wo das denn?«
»In der Pyramide, ich bin dort mit der Rita um acht Uhr verabredet. Es könnte sein, die bringt die andere Dame auch mit. Ich glaub, ich kann das deichseln!«
Hubert drehte sich nochmals um, und als ihm beide Damen freundlich zuwinkten, war die Sache entschieden.
 

copyright: ach-satire.de  Auszug auch dem Roman "Der Milliardenvirus"

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